Zum Einstieg
Von „gemischten“ Gefühlen sprechen manche, wenn es um einen Einstieg geht: Nach dem Urlaub zurück an den Arbeitsplatz. Überhaupt in eine Arbeit, eine neue. Oder in eine neue Woche. Weil einem, wenn etwas Neues beginnt, bewußt ist, daß das Kommende mit Überraschungen nicht geizen wird. Man mag es sich noch so genau vorstellen. Gerade dann. Die „Mischung“ der Gefühle ist freilich auch eine Sache des Alters. Jüngere sind (meist jedenfalls, nicht immer) offener für das Künftige, für Überraschungen, Chancen, Entwicklungen, Fortschritte. Ältere haben, wie sie sich manchmal ausdrücken, schon „zu viel erlebt“. Für Ältere ist manche Abkehr vom Gewohnten eher ein Verlust; sie hören in dem Wort „Fortschritt“ schneidend abweisend die Silbe „fort“. Für drei miteinander lebende Generationen spannt sich darin ein Bogen der Möglichkeiten: Fort dürfen, fort können, fort müssen. Jedes „Fort“ ein Thema für sich. Von „fortsetzen“ gar nicht zu reden. Ein neuer Einstieg bringt nicht automatisch auch Überraschungen, ein neuer Zeitabschnitt nicht automatisch Fortschritte. Für den einzelnen kommt es wohl darauf an, ob er überhaupt schreitet. Oder ob er sich schieben läßt. Manchmal kann man das gar nicht entscheiden. Das geht mit dem Einstieg in eine neue Woche schon los. Da werden wir nicht gefragt, da werden wir reingeschoben und zwar so vehement, daß niemand sagen kann: Diese Woche überspringe ich.
Den Wechsel zwischen Tag und Nacht, den merken wir. Man kann ihn wahrnehmen. Er ist langsam. Man muß das Licht einschalten. Früher oder später. Im Herbst immer früher. Den Wechsel zwischen Sommer und Winter, den merken wir. Man kann ihn wahrnehmen. Er ist langsam. Man muß sich wärmer anziehen. Der Wechsel zwischen Jahr und Jahr hingegen ist kaum zu merken. Die Wahrnehmungen zu einem Jahreswechsel sind jedenfalls anderer Art. Das Feuerwerk und die ganze ballernde Geisterbeschwörung sind wahrnehmbar wie Dunkelheit und Kälte, aber sie sind arrangiert und handgemacht. Den eigentlichen Jahreswechsel, den Übergang von einer Zähleinheit in die andere, merken wir nicht. Er findet rund um die Erde auch zu verschiedenen Zeiten statt. Und überall glauben sie, genau dort, wo „ihr“ Jahr wechselt, sei das originale Ereignis. So machen wir uns etwas vor und meinen natürlich stets, am Nabel des großen Ganzen zu residieren. Andererseits setzen wir uns noch am 5. Januar an einen Brief und tippen prompt die verflossene Jahreszahl. Unsere Finger sind darin selbständig. Wir müssen sie erst neu programmieren. Manch einer braucht die Schule der Geläufigkeit bis in den Februar hinein.
Und programmiert werden nicht nur die Finger. Wir wechseln noch ganz andere Programme. Meinen wir. Jedenfalls halten viele, offen oder heimlich, vor jedem neuen Tag, vor jeder neuen Woche oder nahe einem Jahreswechsel die kleine Programmvorschau. Und eine Rückschau auch. Wir „überfliegen“ gedanklich die kommende Zeit und sehen, je nach Alter und Situation, was möglich wäre. Dabei klärt sich natürlich wenig. Doch einmal nachdenklich hochgucken, „abheben“ vom Gleichklang der Pflichten, Sorgen, Alltagsfreuden – das ist ja nicht falsch: Wir können sortieren, was dran ist. Wenn wir genügend Spielraum haben. Der ist ja nicht selbstverständlich. Manchmal diktiert das Leben, was dran ist.
Eins allerdings klärt sich allemal, wenn wir verstehen, uns selbstkritisch zu sehen: Ob wir Schlagseite haben. Je nachdem: zum Opti- oder Pessimismus. Ist das eigene Programm noch ausgewogen? Von Zeit zu Zeit lohnt sich die Frage. Und Gelegenheiten dafür gibt es immer wieder. Auch diesertage.
Wolfgang Fietkau
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