Das Blaue
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Meine Bücher

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Manchmal kommt ein Besucher darauf zu sprechen. Dann gebe ich Auskunft. Sonst mache ich mir über die Bücher, die im Wohnzimmer an zwei Wänden und im Arbeitszimmer stehen, wenig Gedanken. Sie sind da, sie stehen zur Verfügung. Ich habe manchmal Mühe, ein bestimmtes Werk, von dem ich weiß, daß es da ist, zu finden, weil nach dem letzten Umzug vor fünf Jahren noch immer nicht die Ordnung wiederhergestellt ist. Inzwischen wird die Unordnung zur Ordnung. Ich weiß, wo in der Unordnung was steht. Wenn ich eines Tages die Bücher ordne, werde ich neue Schwierigkeiten haben, mich in der Ordnung zurechtzufinden. Sonst habe ich wenig Probleme mit den Büchern, nur, daß nie eine Lücke da ist, ein Platz für den Nachschub. Die freien Stellen wachsen von selbst zu, es ist wie im Garten: Da stöhnt man schon mal. Aber sonst haben eher andere ihre Probleme mit meinen Büchern:

So ein Regal von der Decke bis zum Boden ist mit den vielen Taschenbüchern, die sich im Laufe der Zeit ansammeln, und Heftchen und Paperbacks heute nicht unbedingt das, was man sich früher als immerhin auch dekorative Bibliothek zulegte. Aber sie sind Haus- und Wohngenossen, diese Bücher mit den Papierrücken, dazwischen dann und wann ein Schutzumschlag, unter dem man einen Leinenrücken vermutet, und vereinzelt durchaus auch ein paar alte Schinken, die auf ihre Weise schön sind. Das Ganze nicht fürs Auge zusammengestellt, eher so faltig und narbig und mit so vielen Spuren der Zeit, wie Leute, mit denen man umgeht. Deshalb bewegt mich seit Jahren der Vorschlag einer Besucherin: Man könnte doch, meinte sie, vor die Bücherwand einen Vorhang ziehen; dann sieht man sie nicht so.

Oder andere: Ihnen entfährt es mit Schrecken: Haben Sie das denn alles gelesen? Aber nein, kann ich nur sagen. Viele Bücher sind gar nicht zum Lesen gemacht. Sie sind zum Nachschlagen da, zum Blättern, zum Dasein sind sie da, bis sie eines Tages gebraucht werden. Kann man einen Atlas lesen? Ein Lexikon? Einen Katalog? Nicht einmal Gedichtbücher sind zum Lesen da. Zum Entdecken und Wiedertreffen sind sie da. Themen trifft man da und Verfasser und Formen und Bilder und Stimmungen und Zeiten. Vielleicht ist nur die Seite 87 wichtig. Die habe ich schon zwanzigmal aufgeschlagen Vielleicht gerate ich beim einundzwanzigsten Mal auf die Seite 103 und lasse mich fesseln noch auf 107 und 112, habe neue Bekannte gefunden, aber gelesen habe ich das Buch noch nie.

Zum Dasein sind sie da, die Bücher. Und zum Aufheben. Da stecken nämlich auch Erinnerungen drin. Einige sind aus der Jugend- und Schulzeit, manche aus der Nachkriegszeit, überhaupt nicht schön oder haltbar, und dann aus allen möglichen Perioden. Fast immer haben sie auch mit Menschen zu tun. Manche haben Widmungen, aber auch sonst weiß ich von fast jedem Buch, woher und wie oder durch wen es zu mir kam. Manche sind ein Geschenk. Über andere hat man sich zu bestimmten Zeiten mit bestimmten Leuten die Köpfe heiß geredet, manche hat man sich angeschafft, weil irgend jemand, auf den man etwas hält, davon geschwärmt, sie empfohlen oder auch nur erwähnt hat. Manche sind eigene Entdeckungen, die zu lieben man inzwischen längst andere angestiftet hat. Von manchen weiß ich, daß sie inzwischen eine Rarität sind, andere sind ziemlich wertlos.

Von welchen aber soll man sich trennen, wenn der Platz knapp wird? Was ist unwichtig, entbehrlich? Die Ecke mit der seichten Unterhaltung? Irgendwelche Berichte, die irgendeinen Sachverhalt nach dem Stand von 1958 enthalten? Weiß ich denn, ob ich mich nächstes Jahr aus irgendeinem Anlaß mit seichter Unterhaltung beschäftigen will? Weiß ich, ob ich in zwei Jahren gerade jenen Sachverhalt nach dem Stand von 1958 suche? Natürlich, so macht man sich etwas vor; denn so vielen Interessen, die man sich da zurechtkombiniert, kann man in vierzig Jahren nicht nachgehen, und so viele Jahre hat man nicht mehr. Wäre es nicht besser, das Ganze auf ein handliches Maß zu bringen? Nichts ist schlimmer als von irgendeinem Buch zu wissen: Du hast es, es hat einen blauen Titel auf einem weißen Umschlag, vor dem Umzug damals stand es in der zweiten Reihe kniehoch neben der Tür. Und dann zu zweifeln: Ist es vielleicht inzwischen nicht mehr da? Irgendwann ausrangiert? Tagelang diese Unruhe. Dann schon lieber alle behalten.

So ist das mit den Büchern: stehen herum, sind da, beanspruchen Platz, sind nicht schön. Aber sie sind mein Zuhause, machen mein Zuhause aus. Ich kann hier und da wohnen: zu Hause bin ich dort, wo meine Bücher sind.

Wolfgang Fietkau


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Die angedrückten Tomaten