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Jung gewohnt

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Ausgerechnet jetzt muß Oliver sich das antun. Der Pfarrer wußte auch nicht recht, was er sagen sollte. Niemand kann das richtig einordnen. War es eine Selbsttötung, ein Unfall? Jedenfalls tragisch, haben viele gesagt. Titus hat weiße Nelken hingelegt. Ausgerechnet jetzt. Wo ich gerade mit Gerlind in eine Etagenwohnung gezogen bin. Dann ging es ab zur Hochzeitsreise. Wir sind erst vorgestern zurückgekommen. Gerlind konnte nicht mit zum Friedhof. Sie mußte gleich in die Schule. Das fängt schön an. Wir haben noch nicht ausgepackt, von der Reise nicht und vom Einzug nicht. Und nun das.

Oliver war nicht einmal richtig betrunken. Ein paar Glas Wein hatte er getrunken, aber richtig betrunken war er nicht. Wer weiß, was, bei der Party abgegangen ist.
Oliver war zum ersten Mal bei Gärtners. Aber die Wohnung war ihm gut bekannt, meinte er wohl. Er war nämlich oft bei Titus, dessen Eltern im Parterre die gleiche Wohnung haben. Oliver kannte die Wohnung von Titus. Und bei Gärtners gibt es eigentlich keinen Unterschied zur Wohnung von Titus. Sie hat den gleichen Schnitt. Die Räume liegen so zueinander wie bei Titus im Parterre. Bei Gärtners im vierten Stock ist alles genau wie bei Titus. Die Zweieinhalbzimmerwohnungen sind im ganzen Haus gleich. Eine über der anderen. Sogar die Möbel haben Gärtners so aufgestellt, daß man denken kann, man sei bei Titus. Aber Oliver war vorher nie bei Gärtners. Bis letzten Dienstag. Sie hatten die Möbel so aufgestellt, wie die Türen und Steckdosen es vorgaben, so daß gar keine andere Lösung dabei herauskommen konnte, wenn jemand im größeren Zimmer eine Sitzecke und in dem anderen die Ehebetten aufstellt. Wie man Möbel eben stellt, wenn man sie vor zehn, zwölf Jahren gekauft hat. Und Titus und Gärtners haben vor zehn, zwölf Jahren ihre Möbel gekauft.
*
Eigentlich wollten Gärtners die Wohnung schon vor einiger Zeit aufgeben. Er hat mir erzählt, daß sie ein bißchen geerbt haben und vielleicht sogar ein Häuschen erwerben. Sie taten sich aber schwer mit einer Entscheidung. Susi Gärtner sagte mir eines Tages: „Ich kann das nicht mehr hören: Erdgeschoß, Windfang, Diele, Gäste-WC, Küche, Wohnzimmer mit Eßecke und Ausgang zur Terrasse. Das wiederholt sich in den Angeboten wie eine Litanei.“ Sie haben nun Grundrisse von Häusern und Wohnungen in vielen Stadtteilen. Damit könne man ganze Einbrecherbanden ausrüsten, meinte sie. Aus den Zeichnungen, die bereitwillig herumgereicht werden, geht hervor, wo welche Türen und Fenster sind, wo die Kellertreppe und die Flure, und wo die Herrschaften schlafen.

Wäre ja nicht so schlecht, meinte sie. Irgendwo ansässig sein für alle Zeit, die einem bleibt, wäre ja nicht so schlecht. Andererseits wohnen wir hier doch ganz passabel. Draußen ist nicht mehr der kahle Acker wie beim Einzug in diese Siedlung. Die Bäume ringsum sind mächtig gewachsen. Das Grün hat die Fenster im zweiten Stock schon erreicht. Bald reichen die Baumkronen bis zum Balkon. Wir sehen ins Grüne und haben kein Gegenüber.

*
Als Oliver zu Gärtners Party kam, konnte er sich in der Wohnung wie bei Titus fühlen. Vielleicht war es das. Bei Titus waren wir öfter zusammen, wir Kinder aus der Nachbarschaft. Oliver gehörte dazu und Gerlind. Als Jugendliche hatten wir öfter den Weg über den Balkon mit einem Sprung ins Freie genommen. Wenn wir ein bißchen getobt hatten, oder aus Übermut, hatten wir die Gardine geteilt, die Balkontür aufgerissen, und waren, manchmal abends im Dunkeln, von der Zimmerbeleuchtung geblendet, über die Balkonbrüstung zwischen die Büsche gesprungen. Als wir zehn und elf waren, mit dem Bauch zur Brüstung, mehr geklettert als gesprungen. Mit mehr Schwung, als wir vierzehn waren. Auch später noch. Einmal waren wir zu viert mit Gerlind bei Titus im Wohnzimmer. Da war Oliver schließlich aufgestanden, ganz unvermittelt, hatte die Balkontür aufgerissen, hinter sich offengelassen und sich mit einer steifen Flanke über die Brüstung geschwungen.

Er hatte sich auf diese Weise von uns dreien freundschaftlich verabschiedet. Gerlind hatte nämlich geduldet, daß Titus - ich war mit ihr noch nicht zusammen und wir hatten alle drei ein Auge auf sie geworfen - ihr den Armreif auf dem Arm ein bißchen hin und herschob, immer mal rauf und wieder runter, und wieder rauf bis halb zum Ellenbogen, wo er den Arm einschnürte, daß das Fleisch weiß wurde und wieder runter über den Knöchel am Unterarm und wieder zurück und so weiter, was sie geduldet hatte bis zum Augenblick vor dem Sprung. Oliver saß links von ihr, wo der Arm unbereift war, was ja einiges zu wünschen übrig ließ. Oliver hatte sich das eine Weile angesehen. Schwer zu sagen, was ihn eigentlich hatte springen lassen, nachdem er sich das diese Weile angesehen hatte. Schwer zu fassen, was ihn eigentlich springen ließ, wie wir oft gesprungen waren, aus den verschiedenen Gründen. Wir haben ihn nie gefragt. Und wie das letzten Dienstag war, können wir nun auch nicht fragen.

*
Ich weiß, daß die Entscheidung für einen bestimmten Bleibeplatz eigentlich gar nicht so wichtig ist, wie man tut. Wir haben früher manchmal gezeltet, einmal sind wir quer durch Franken gewandert, Oliver Titus und ich. Wir haben jeder ein Stück Zeltbahn im Gepäck gehabt, abends ergaben diese Stücke, wenn sie zusammengeknüpft wurden, ein einfaches Zelt. Wir blieben, wo es uns gefiel, oder wo wir eben einen Platz fanden oder finden mußten, weil der Himmel sich bezog oder die Sonne unterging. Dann haben wir ein Stück Wald oder einen Geländestreifen angesteuert.

Natürlich haben wir das Gelände geprüft und möglichst genau den Punkt ausgewählt, der besonders geeignet war. Licht und Schatten spielten dabei eine Rolle, die Bodenbeschaffenheit, das Gefälle am Ort und darum herum, Sehen und Nichtgesehenwerden war wichtig, ein Wasser in der Nähe und anderes mehr. Nach solchen Gesichtspunkten entschieden wir uns. Das konnte mitunter recht schnell gehen. Wir verhielten uns dabei eher instinktiv als von klugen Gedanken geleitet. Wenn einer von uns genau begründete, weshalb wir hier und nicht dort besser lagerten, war das ein Wichtigtuer. So etwas hatte man im Gefühl.

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Weshalb Oliver damals, jung gewohnt, alt getan, sprang, aus Rücksicht auf Gerlind und Titus oder aus Freundschaft, sprang und verduftete, wie wir oft gesprungen waren, ins Dunkle hinein und im Garten den Boden unter den Füßen fühlten beim Aufprall, den Boden weich und federnd im Frühling oder Sommer oder aufgeweicht matschig oder hartgefroren oder bedeckt mit Schnee, der knirschte oder weich und flockig war. Weshalb Oliver also damals sprang, blieb unklar. Aus Rücksicht vielleicht, wie er später angegeben hatte, oder aus Eifersucht, wie Titus zu Gerlind hatte verlauten lassen, worauf sie das Reifenschieben untersagt hatte, ein für alle mal. So also war er gesprungen, daß Gerlind das mit dem Reifen nicht mehr wünschte. Oder damit Gerlind das Reifenschieben untersagte. Oder weil er wissen wollte, ob Gerlind das Reifenschieben untersagen würde. So also war er gesprungen, wie wir oft gesprungen waren.

Aber das war Jahre her. Gerlind war eines Tages weggezogen und nur gelegentlich noch in der Nachbarschaft bei einer Freundin zu Besuch, bis wir uns gefunden haben. Gerlind hat mit dem Unglück nichts zu tun. Ihr hatte nur damals einer der Sprünge gegolten, einer der vielen Sprünge im Laufe der Jahre. Der Sprung am Dienstag bleibt allen ein Rätsel. Ich sage, er hat die fremde Wohnung wahrscheinlich zu genau gekannt. Er hat gemeint, die Wohnung genau zu kennen. Das war sein Verhängnis.

Natürlich war die Kripo schnell zur Stelle und wollte wissen, ob jemand nachgeholfen hat. Aber nein, gab Klaus Gärtner Bescheid; wir waren ausgelassen, und da stürmte er einfach raus auf den Balkon, und da war es auch schon passiert. Vom vierten Stock.

*
Genau genommen, gab es fast immer eine größere Zahl gleichwertiger Lagerplätze. Wenn wir aber unseren Platz gewählt hatten, abends dort gekocht und ein bißchen gefroren und uns etwas zu essen gemacht hatten, wenn wir dort geschlafen und morgens verschwiemelt herausgekrochen waren, ein Stück weiter gepinkelt hatten und zurückgekommen waren durch das nasse Gras und den Brotkanten herausholten und Wasser für einen Tee aufsetzten, dann war das unser Platz. Nur dieser und keiner der umliegenden Plätze hatte diesen Rang. Wir waren nach einer Nacht mit Einzelheiten vertraut, mit einer Wurzel, einem Baumstumpf und einer Baumkrone, die man im Dunkeln nur geahnt hatte, die aber da waren und man kannte sie jetzt, und auch deshalb war dieser Platz eben unser Ort und nur dieser.

Sogar bei Plätzen, die wir in der Dunkelheit ausgewählt hatten, auch bei Plätzen, die wir völlig erschöpft und ohne Kraft für eine besondere Suchaktion einfach belegt hatten, war es uns so gegangen. Am nächsten Morgen waren solche Plätze uns vertraut. Wenn wir die Decken hochgenommen und alles verstaut hatten, sah man auf dem Boden einen Abdruck. Und immer hatte vorher der Gedanke dazugehört: Na schön, für eine Nacht. Und immer wußten wir am nächsten Tag: Man hätte bleiben können. Und wenn wir einige Tage bleiben wollten und im Dunkeln erschöpft angekommen waren und gesagt hatten: Morgen ziehen wir um, dann fiel es schwer am nächsten Tag, etwas Besseres zu finden als den Platz, mit dem wir ein bißchen vertraut waren. Wahrscheinlich mußte einfach einer sagen: Hier. Wahrscheinlich mußte man sich nur auf eine Stelle einlassen. Und kurze Zeit später hielt man den Platz für den einzig richtigen, den eigenen Platz, an dem man sich eingerichtet hatte für eine Zeit.

Mit einem Haus würde es wohl so ähnlich sein. Ob Gärtners deswegen an der Wohnung hingen? Auch auf Campingplätzen kann man das beobachten. Natürlich will jeder besonders gewieft sein, aber wenn man erst ein paar Steine und Büsche kennt, die Einzelheiten, überlegt man sich, ob man noch umzieht. Nicht nur wegen der Mühe, die das macht, sondern, weil man daran zweifelt, daß ein anderer Standplatz besser ist als der, den man hat.

*

Nun wollen Gärtners sich vielleicht doch etwas anderes suchen. Susi meinte das vorhin bei der Feier. Das seien nun Umstände, unter denen sie noch mal nachdenken über ein Haus oder wenigstens eine andere Wohnung. Es falle ihnen nicht leicht, neben der Balkontür zu frühstücken, an der Oliver sich verabschiedet hat.

*

Gerlind wird schon zu Hause sein. Wie sich das anhört: Zu Hause. Wir haben bisher ja kaum eine Beziehung zu diesem Mietshaus. Die Wohnung haben wir nicht ohne weiteres bekommen. Nur weil wir einen kannten, der einen kannte, kamen wir da ran. Noch ist das Haus völlig neu. Sie räumen gerade erst die Geräte weg, und der Rasen muß noch gesät werden. Die Räume, die wir flüchtig eingerichtet haben, riechen nach Farbe. Alles ist neu, alles frisch, alles wie unberührt. Nicht alles funktioniert richtig. Nicht alles schließt, dichtet und rastet wie geplant, aber alles ist wie aus dem Ei gepellt. Tatsächlich haben wir erst von einigen Gegenständen die Schutzpelle entfernt, die für den Transport dran war, eine aufgeklebte Plastikhaut im Spülbecken, eine Papierhaut im Wasch- und Klobecken und in der Badewanne. Der Schlüssel in meiner Tasche ist noch ohne Schrammen. Überall glatte, saubere Flächen, keine Gebrauchsspuren.

Und dagegen nun wir. Wir wollen als Paar ein Leben aus zwei Leben in dieser Wohnung führen. Das will nicht zusammenpassen: dieses Haus, diese Wohnung und wir, mit unseren Gebrauchsspuren, unserer Versehrtheit. Wir sind nicht wie aus dem Ei gepellt, haben die Eierschalen lange hinter uns gelassen. Wir haben Druckstellen und müssen sehen, wie wir damit leben, wie wir uns damit zurechtleben. Das ist zu zweit doppelt schwer, jeder will auch mit den Druckstellen des andern leben. Wir können uns bemühen, dem andern ständig eine glatte, unversehrte Seite zuzukehren. Aber es wird uns auf Dauer nicht gelingen. Wir werden uns dem aussetzen. Nein, eigentlich will ich schon sehen, was sie, vielleicht kaum wahrnehmbar, bedrückt, vielleicht auch, was sie bedrücken könnte.

Wir wollen es versuchen. Dieses Leben versuchen. Die Nachbarn, die da über uns wohnen und neben uns, in ihren neuen Wohnungen, können es doch auch nur versuchen. In neue Wohnungen gehören vielleicht neue Menschen. Vielleicht ist es ein Stilbruch, daß wir, daß die andern Mieter in diese neuen Wohnungen einziehen. Wir haben alle schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Wir kaufen Möbel und ziehen in eine neue Wohnung. Eigentlich müßte man in jede neue Wohnung einen neugeborenen Menschen legen. Aber die Neugeborenen sind so unfertig, daß sie die andern brauchen, die sich für fertig halten. Im Grunde haben wir ihnen, den unfertigen, neuen Menschen nur Gebrauchsspuren voraus. Wir nehmen sie eines Tages an die Hand und zeigen ihnen, wie man aufs Klo geht. Wir machen ihnen vor, wie man Ja sagt und Nein sagt, und wie man damit lügt oder die Wahrheit sagt. Wir bringen ihnen bei, daß man Bitte sagt und Danke. Wir machen ihnen vor, wie man sich durchs Leben fordert oder jammert oder bangt, ohne Bitte oder Danke zu sagen.

Diese Nachbarn sind in der gleichen Situation wie wir. Sie alle haben doch diesen oder jenen schon angezapft und sitzen lassen. Und alle diese Nachbarn, denen man von nun an einen guten Tag wünschen wird, haben andere auf der Strecke gelassen. Weil sie nicht mehr mit ihnen zusammenbleiben wollten, oder weil sie sich nie mit ihnen hätten auf den Weg machen sollen. Und sie werden das kennen, wie eines Tages, vielleicht nur in Erinnerung, einer von den Zurückgelassenen ihren Weg kreuzt, daß er einmal durchreist und sich meldet und sagt, ich lebe noch. So und so lebe ich, und wie lebst du? Das werden sie kennen. Und auch das andere, das einfach mit vorfährt, eine ganze Geschichte, die eigene persönliche Geschichte, eine, an der man selbst herumgebastelt hat. Und nun hat sich einer so endgültig bemerkbar gemacht. Einer, der nicht mehr spricht.

Vorhin haben wir ihn in die Erde gelegt, in diese andere Wohnung. Von dort komme ich und gehe auf das neue Haus zu. Wo wir zwar nicht ein neues Leben, aber einen neuen Abschnitt anfangen. Hier steht das Haus, das wir nun unser Haus nennen werden, obwohl es gerade das nicht ist. Bevor ich den Schlüssel rumdrehe und die Tür aufdrücke, tippe ich mit dem Finger auf die Klingel, auf eine von sechzehn Klingeln, neben sechzehn Namen. So kündige ich mich bei Gerlind an. Ich habe einen Schlüssel und kündige mich an. Zweimal tippe ich auf unsere Klingel, ein Zeichen,
das wir verabredet haben. Es soll sich unterscheiden von den Klingelzeichen der anderen, von dem Klingeln, das heißt: Es kommt jemand. Unser Zeichen heißt: Es kommt jemand nach Hause.

Auf den ersten Stufen höre ich hinter mir den Summer an der Haustür. Zweimal kurz. Das ist nicht verabredet, aber leicht zu verstehen.

Wolfgang Fietkau


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Ein ordentliches Quartier
Nicht jedermanns Sache